Nach dem Interview mit Miri über ihr Leben mit Borderline gab es sehr viel Resonanz und Feedback und andere Borderlinekranke sind auf mich zugekommen. Annika, die die Krankheit seit einigen Jahren mit sich trägt, versucht derzeit in ihrer eigenen Wohnung wieder Anschluss zu finden und eine Umschulung in den sozialen Bereich zu beginnen. Ihre Erfahrungen und Gedanken zu Borderline lassen sich auch auf ihrem Blog finden. Im Interview erzählt sie uns mehr über das Erleben und die Entstehung der Persönlichkeitsstörung.
Wie ist es bei dir zur Borderline-Erkrankung gekommen?
Es fing bei mir schon im Kindesalter an, wurde aber erst vor circa 4 Jahren festgestellt, nachdem ich versucht habe mir mit einer Überdosis Atosil das Leben zu nehmen.
Zurück zu führen ist es auf diverse Erlebnisse. Dazu gehören Missbrauch in der Familie (was ich jahrelang verdrängt habe), jahrelang emotionaler Missbrauch, mehrfache Vergewaltigung und “Vernachlässigung”. Vernachlässigung in dem Sinne, dass ich ein Schlüsselkind gewesen bin und von Klein auf immer voll in den Haushalt eingebunden worden bin. Dazu gehörte auch bereits mit sechs Jahren die ersten Fertiggerichte kochen, Haushalt, da beide Elternteile berufstätig waren. Probleme wurden in der Familie permanent runtergespielt oder verschwiegen. Schon damals habe ich immer nach Anerkennung gekämpft und versucht die Aufmerksamkeit meiner Eltern zu bekommen.
Ich habe daher exzessiv Leistungssport betrieben. 4-5 mal die Woche Training mit regelmäßigen Wettkämpfen. Ich wollte doch nur, dass meine Eltern stolz auf mich wahren. Ebenfalls spielen der Unfall meines Erzeugers 1988, er stürzte beim Hausbau von einem Gerüst und war sofort hochgradig Querschnittsgelähmt, rein und die Scheidungsschlacht meiner Eltern. Sprich ich habe mein Leben lang nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe gerungen, aber nicht ausreichend bekommen. Ich wollte doch nur, dass sich jemand für mich und meine Gefühle interessiert. Aber es hat niemanden Interessiert.
Was genau passiert bei emotionaler Vergewaltigung und häuslicher Gewalt?
Emotionale Vergewaltigung oder auch emotionaler Missbrauch…nun…was ist das? Hier erst mal die Definition im Fachchinesisch.
Alle Formen, die hier genannt werden habe ich durchlebt.Es sind solche Aussagen wie: „Du kannst nichts und du bist nichts. Du wirst nie was sein.“, „Wer bist Du denn schon? Ein niemand!“, „Du kannst aber auch gar nichts!“, „Ich bin das Beste, was Dir passieren konnte. Wer weiß, was du nach mir bekommst.“, „Wenn ich Dich nicht haben kann, bekommt Dich keiner!”, “Ich bringe Dich um, wenn….“, „Das kannst Du sowieso nicht!“, „Kannst Du nicht mal was richtig machen?“, „Was willst Du von mir. Lass mich in Ruhe!“, „Fass mich nicht an!“, „Wenn Du nicht DAS machst, verlasse ich Dich!“, „Wird Zeit, dass Du mal wieder Sport machst. Hast ganz schön zu gelegt!“, „Du bist fett!“. Mir fallen noch unzählige solcher Aussagen ein, aber ich denke das reicht.
Ich habe solche Aussagen nachher geglaubt. Ich habe mich permanent in Frage gestellt, was auch heute noch oft passiert. Das Selbstwertgefühl verkümmerte bei mir so sehr, dass ich irgendwann der Meinung war, ohne jemanden an meiner Seite nichts mehr zu schaffen und nutzlos zu sein. Nur mein Partner / Erzeuger machte mich noch zu jemandem…allerdings nur noch zu einer Puppe seiner Launen und meiner Ängste. Häusliche Gewalt. was passiert da? Es ist schon so, was das Wort sagt. Gewalt. Gewalt in Form von massiven und aggressiven verbalen Attacken bis hin zu Schlägen und Tritten immer in Verbindung mit emotionaler Vergewaltigung.
Wie lange hat diese Phase bei dir angedauert?
Die Phasen habe ich leider immer wieder durchlebt. Sei es Zuhause oder in meinen meisten Beziehungen. Seit kurzem bin ich erst wieder so einer Phase entkommen.
Wie hast du dich dagegen gewehrt?
Gewehrt? Wie soll man sich dagegen wehren? Irgendwann glaubt man solche Dinge, die einen regelmäßig und immer und immer wieder an den Kopf geknallt werden. Man kennt diese Aussagen und erträgt diese schweigend. Sicher habe ich immer wieder versucht mich zu behaupten, doch irgendwann fängt man an zu resignieren und sieht einfach keinen Ausweg mehr.
Kann jeder in so eine Situation hineinrutschen oder gibt es bestimmte Eigenschaften, die einen anfälliger dafür machen?
Ich denke, dass jeder Mensch, der verzweifelt nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit sucht, anfälliger dafür ist, in solch eine Situation zu rutschen. Oftmals gibt es Menschen, die sich die Sehnsüchte und Ängste von anderen zu nutzen machen. Sie sind in der Lage dies zu erkennen und nutzen es dann zu ihrem Vorteil. Erst geben sie einem all das, was man sucht und dann… Gerade mit Angst kann man einen Menschen schnell kontrollieren. Leider machen diese Sehnsüchte und Wünsche uns oftmals Blind für das wahre Gesicht eines anderen Menschen. Es wird nur das Schöne wahr genommen und dies wird dann auch immer als Entschuldigung genommen.
„Er meint es nicht so.“, „Er ändert sich für mich.“, „Es war nur ein Ausrutscher und kommt bestimmt nicht wieder vor.“ Doch innerlich wusste ich immer, dass sich nichts ändern wird. Aber es machte es erträglich.
In welchen Bereichen bereiten dir deine Symptome die größten Schwierigkeiten?
Genau betrachtet habe ich Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich.
Wie bewältigst du Angstsituationen wie große Menschenansammlungen?
In erster Linie meide ich große Menschenansammlungen und versuche mein Leben so zu planen, dass ich erst gar nicht in diese Situation komme.
Kannst du dir deine Symptome „abtrainieren“, indem du beispielsweise einen Tag in einer großen Menschenansammlung verbringst und dich praktisch daran gewöhnst?
Es ist ein langer Weg dahin und ich muss mich meinen Ängsten immer wieder stellen, aber das ist auch jedes Mal ein unheimlicher Kraftaufwand. Derzeit ist es so, dass ich mich den Situationen immer wieder stelle indem ich Vormittags in die Stadt gehe, da da dann noch nicht so viel los ist. Oder ich treffe mich mit Freunden, den ich vertraue, und versuche es dann so lange wie möglich auszuhalten. Auch Bus fahren ist eine Herausforderung, wenn er zu voll ist. Aber es klappt inzwischen zumindest ganz gut, wenn ich mir die Knöpfe ins Ohr stecke und Musik höre oder mich mit Spielen auf dem Handy ablenke.
Aber es gibt merkwürdiger Weise einen Ort, wo es mir nicht wirklich was ausmacht und das ist der Strand. Warum das so ist, habe ich aber leider noch nicht herausgefunden. Aber man kann lernen mit den Gefühlen, die einen dann erfassen umzugehen. Kurz gesagt, ich kann lernen sie zu reduzieren und einige werden vielleicht auch ganz weg gehen. Aber „abtrainieren“. Ich weiß es nicht.
Wenn du dir beispielsweise selbst die Nahrung entziehst: Welche Motivation hast du in dem Moment und merkst du dabei dass das was du tust eigentlich das falsche ist?
Da ich bereits magersüchtig und bulimisch war, ist es ein täglicher Kampf. Mein Selbstbild ist bis heute nicht das Beste und bin daher noch immer sehr auf meine Figur fixiert, auch wenn es nicht mehr so schlimm ist wie früher. Sprich eine Motivation ist es nicht dick zu werden. Die andere „Motivation“ ist, dass ich es einfach nicht verdient habe, etwas zu essen. Ja, ich weiß, dass es falsch ist, daher versuche ich, so weit es möglich ist, mich gesund zu ernähren und das „entgegengesetzte Handeln“ anzuwenden.
Ist man in solchen Situationen noch Herr der Lage? Welche Kraft übernimmt da die Kontrolle über den Körper?
Herr der Lage? Naja…also mir ist meistens schon bewusst was ich in solchen Stationen anstelle, aber es passiert auch, dass ich es einfach vergesse zu essen, da ich kein richtiges Hungergefühl mehr habe. Aber in meiner Vergangenheit gab es auch Situationen, an die ich mich in keinster Weise erinnere. Und das ist rückwirkend betrachtet sehr erschreckend. Ich nenne es absoluten Realitätsverlust.
Wenn man eine schlechte Angewohnheit wie das Knacken mit den Fingern hat und darüber rational nachdenkt, merkt man dass das eigentlich völlig unsinnig ist und man kann es sich irgendwie abgewöhnen. Was hindert einen bei einer psychischen Erkrankung daran sich die negativen und letztlich sinnlosen Handlungen einfach abzugewöhnen?
Einfach abgewöhnen wäre schon…Schmunzel… Wie sagte meine Therapeutin damals so schön? Das, was man ein Leben lang so gelernt hat, lässt sich nicht einfach wieder umlernen. Mal davon abgesehen, dass mir der „richtige“ Umgang mit meinen Gefühlen nie beigebracht wurde und da ich nun mal Emotionen wesentlich stärker wahrnehme, als „gesunde“ Menschen, ist es für Nichtbetroffene auch schwer zu verstehen. Als kleines Beispiel:
Stellt euch eine Situation vor, die euch buchstäblich den Boden unter den Füßen weg reißt, einen Moment, der euch an allem Zweifeln lässt; ihr keinen Ausweg mehr für eure Situation seht…ihr euch wünscht, es sei alles nur ein fürchterlicher Albtraum… Du fühlst Dich einfach nur einsam, missverstanden, ungeliebt, bedroht…nichts ergibt mehr einen Sinn… Für unbehandelte Betroffene sind solche Emotionsausbrüche ein Dauerzustand. Es gilt als „normal“.
Es ist nicht einfach damit getan, sich eine Handlung abzugewöhnen, sondern auch mit den Begleiterscheinungen wie innerliches Emotionschaos und körperliche Reaktionen zurechtzukommen. Viele Handlungen erfüllen ja nun auch einen Zweck, auch wenn der nicht immer vernünftig oder für andere nachvollziehbar ist. Die Gefühle zu hungern, zu freieren, zu schwitzen oder sich zu verletzen lassen mich spüren, dass ich lebe. Ich spüre mich dann.
Was ist dir wichtig um deine Symptome unter Kontrolle zu bekommen oder abzuschwächen?
Ich arbeite mit Skills nach DBT. Auch hier bedarf es einer ständigen Arbeiten, da ich meine Skills meinen Situationen anpassen muss. Sprich, nur weil ein Skill mir in einer Situation geholfen hat, heißt es nicht, dass es beim nächsten mal auch funktioniert. Also ist eine permanente Weiterentwicklung nötig. Mein kleiner Kater ist zum Beispiel ein Skill für mich. Wenn ich es mal nicht mit bekomme, dass ich wieder unter hoher Anspannung leide, wird auch mein kleiner Kater immer ganz unruhig. Er ist wie ein Spiegel für mich. An seinem Verhalten erkenne ich mein Verhalten besser und kann dann entsprechend reagieren. Manchmal schmeißt er mich mit seinem Verhalten regelrecht aus der Wohnung, damit ich mich bewege, aber auch wenn ich völlig entspannt bin zeigt er es mir mit seinen Kuschelattacken.
Freunde, nun die wenigsten wissen eigentlich wirklich, wie sie mit mir umgehen sollen, aber sie wissen, wenn sie mir das Gefühl von Sicherheit geben, ist es für mich erträglich. Sicher habe ich auch Tage an denen alles einfach nur gut läuft und ich dann aus mir raus komme, mich traue und gerade dann bin ich gerne mit meinen Freunden zusammen. Sie nehmen mich halt wie ich bin und versuchen damit umzugehen und inzwischen funktioniert das ganz gut. Schön ist es auch zu spüren, dass ich nicht in irgendeine Ecke gestellt werde, weil ich anders bin, sondern dass ich dazugehöre. Sie unterstützen mich, versuchen mir so weit es ihnen möglich ist mir zu helfen, lassen mich aber auch in Ruhe, wenn ich es brauche. Mehr geht nicht.
Beschäftigung, ja, Beschäftigung ist wichtig, nur befinde ich mich derzeit nicht in der glücklichen Lage, eine Beschäftigung zu haben. Zum einen ist es nicht sonderlich leicht einen potenziellen Arbeitgeber davon zu überzeugen mich einzustellen, da ich derzeit erwerbsgemindert, aber befristet, berentet bin. Ich wäre froh, wenn ich wieder Arbeiten könnte, auch wenn es erst mal nur ein Minijob wäre, da es mir das Leben in qualitativer und finanzieller Sicht um einiges erleichtern würde. Außerdem hätte ich dann wieder eine Aufgabe, das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas leisten zu können.
Hast du dich bereits einer Therapie unterzogen?
Ja. Das erste mal war ich im September 2009 in der ZIP (Zentrum für Integrative Psychiatrie), im April 2010 erneut und bin dann im Juni 2010 für 3 Monate stationär in der Schön Klinik in Bad Bramstedt gewesen. Ich befinde mich aber noch immer in ambulanter Behandlung der Verhaltenstherapie.
Du möchtest eine Umschulung in den sozialen Bereich mit Kindern machen. Warum gerade dorthin?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich liebe Kinder. Es gibt für mich nichts schöneres als strahlende Kinderaugen, Kinderlachen, diese einfache ehrliche Art, aber auch wenn sie schreien, zetern oder weinen. Ebenfalls scheine ich einfach nur ein Händchen für Kinder zu haben. Ich möchte Kindern etwas mit auf den Weg geben. Ich möchte für Kinder da sein, wenn es die Eltern nicht können. Ich möchte ihnen vielleicht neue Wege zeigen, Wege, die vermutlich auch nicht die Eltern kennen. Ich möchte Kindern einfach ein Stück von dem zurück geben, was sie selbst geben.
Noch heute erinnere ich mich gerne und viel an meine Kindergärtnerin und wenn ich auch nur einem Kind so eine schöne Erinnerung geben könnte, wäre es das Größte. Zum anderen ist es mir nicht vergönnt eigene Kinder zu bekommen.
Bilder: Blatt vor unscharfen Hintergrund: luise / pixelio.de; Babykatze in Waagenschale: Steffi Pelz / pixelio.de; Seil und Wiese: Peter Hill / pixelio.de